Interview mit Dr. Martine Carré

vitiligo haende

Betroffenheit als Motivator

Martine Carré ist Präsidentin der Association Française Vitiligo (AFV), einer Patienten-Vereinigung, die 2022 ihr 30-jähriges Bestehen feiert. Martine Carré ist selbst betroffen, engagiert sich seit Jahren und hat eine unerschütterliche Leidenschaft, Menschen mit Vitiligo zu helfen. Im Interview erzählt sie von ihrer Inspiration, in diesem Bereich zu arbeiten und gibt Tipps für die richtige Hautpflege und «korrigierendes Make-up».


Das Interview führte die studierte Pharmazeutin und Hautpflege-Spezialistin Sylvie Legenne.

 

Sylvie Legenne: Warum sind Sie der AFV beigetreten?
Martine Carré: Als klinische Psychologin, die an Vitiligo leidet, war der Beitritt zur AFV eine Möglichkeit, mir selbst und anderen mit meinen persönlichen Erfahrungen und beruflichen Fähigkeiten zu helfen. Auf persönlicher Ebene war es für mich ein Ventil und eine Möglichkeit, mir Gehör zu verschaffen und die Zwänge und die Belastung durch die Krankheit zu überwinden.
Damals, als ich anfing, habe ich verschiedene ehrenamtliche Aktivitäten ins Leben gerufen, um den Patienten psychologisch zu helfen: Hotlines, Make-up-Workshops, Gesprächsgruppen und Einzelgespräche. Im Laufe der Jahre habe ich alle Funktionen innerhalb der Vereinigung ausgeübt – jede hat mir eine neue Perspektive eröffnet und meine Leidenschaft für diese ehrenamtliche Tätigkeit vertieft.

 

Wer hat Sie auf Ihrem Weg mit der AFV inspiriert?
Menschen mit Vitiligo inspirieren mich jeden Tag, wenn sie zuversichtlich zu mir kommen und mir ihre Fragen, Zweifel und Fortschritte anvertrauen. So wie ich ihnen geholfen habe, haben mir auch die Betroffenen geholfen – mein Leben genährt, mein Einfühlungsvermögen gestärkt und es mir ermöglicht, meine Vitiligo zu akzeptieren und besser zu leben. Wenn ich jemanden nennen müsste, wäre es Dr. Yvon Gauthier, der sein Leben dieser Forschung gewidmet hat! Ich bewundere diejenigen, die unermüdlich daran arbeiten, Hypothesen zu formulieren und Lösungen zu finden. Er hat nie aufgegeben, Vitiligo zum Wohle der Patientinnen und Patienten zu untersuchen.
 
FOKUS: VITILIGO & KORRIGIERENDES MAKE-UP
 

Erzählen Sie uns bitte mehr von der Rolle, die Make-up bei Vitiligo-Patienten spielt…
Das «korrigierende Make-up» ermöglicht es den Betroffenen oft, ihr eigenes – im Laufe der Krankheit verändertes – Bild wiederzufinden und sich in einem neuen Licht zu sehen. Es harmonisiert das Gesicht, stärkt das Selbstvertrauen und ermöglicht den Patientinnen und Patienten, ein gesundes soziales Leben zu führen.
Es ist kein Wundermittel, sondern ein einfacher Weg, die Kontrolle über das Selbstbild wiederzuerlangen. Man ist nicht länger «ein Opfer der Krankheit, sondern ein Akteur ihrer Heilung». Das Make-up ist eine Ermächtigung, denn entweder man tut es oder man tut es nicht. Es wird einem nicht auferlegt wie eine medizinische Behandlung, bei der man vielleicht keine Ergebnisse sieht. Beim Make-up gibt es ein sofortiges sichtbares Ergebnis.

 

Wir nennen Make-up für Vitiligo-Betroffene oft «Camouflage» oder «therapeutisches Make-up»? Was halten Sie von diesen Begriffen?
Ich mag das Wort «Camouflage» nicht – es ist ein militärischer Begriff, der impliziert, dass es einen Feind gibt, vor dem man sich verstecken muss. Make-up bedeutet für mich verschönern statt «tarnen».
Sich schminken heisst, sich um sich selbst zu kümmern. Worte sind sehr wichtig, und wir müssen vorsichtig sein, welche wir verwenden. Wenn Sie Krieg gegen Vitiligo führen, werden Sie ihn nicht gewinnen! Einige Unternehmen verwenden den Begriff «therapeutisches Make-up», den ich auch nicht mag, da es sich bei diesen Produkten nicht um eine Behandlung handelt. Ich bevorzuge «korrigierendes Make-up», da es für alle Geschlechter und Kinder anwendbar ist.
 
Erzählen Sie uns von den Vitiligo-Make-up-Workshops, die Sie im AFV veranstalten?
Ich hatte das Glück, bei der AFV Dr. Barthélémy kennenzulernen, der auf das Schminken von Patientinnen und Patienten mit schweren Verbrennungen spezialisiert war. Wir arbeiteten zusammen, mischten Farben und fanden Wege, um Hautverfärbungen auszugleichen. Durch diese Zusammenarbeit habe ich verstanden, wie wichtig es ist, dass die oder der Betroffene genau bestätigt, was sie oder ihn beschäftigt, ohne nach dem perfekten Farbton zu suchen. Das ist nicht das, wonach sie suchen: Es geht vielmehr darum, zuzuhören, die Persönlichkeit des Patienten, seine spezifischen Bedürfnisse und seinen Lebensstil zu verstehen, um seine Erwartungen bestmöglich zu erfüllen. Dies unterstreicht die Macht der Gesprächsgruppen. Eine Person wird immer eher einer oder einem anderen Vitiligo-Betroffenen vertrauen, die oder der ihr sagt: «Ihre Vitiligo ist nicht mehr sichtbar» als einer Visagistin oder einem Visagisten. Seit unseren Anfängen haben sich die Make-up-Workshops von ganztägigen zu halbtägigen Veranstaltungen entwickelt und wurden während der globalen Pandemie über Zoom abgehalten.

 

Inwiefern unterscheidet sich korrigierendes von gewöhnlichem Make-up?
Die Produkte haben eine stärkere und länger anhaltende Deckkraft. Das Schwierigste bei der Auswahl von «korrigierendem» Make-up ist es, den richtigen Farbton zu finden – einen, der dem natürlichen/ursprünglichen Unterton der Haut so nahe wie möglich kommt. Schliesslich werden leichte, flüssige Formeln bevorzugt, da sie ein natürlicheres Aussehen und ein gesundes Strahlen verleihen. In unseren Workshops konzentrieren wir uns darauf, mit Make-up die Aufmerksamkeit auf einen anderen Teil des Gesichts zu lenken, zum Beispiel auf die Augen oder Lippen.

 

Was sind die grössten Herausforderungen beim «korrigierenden Make-up»?
Eine gute Hautpflege mit gründlicher Feuchtigkeitszufuhr, richtiger Reinigung und Make-up-Entfernung ist für Menschen mit Vitiligo unerlässlich. Jeden Tag, morgens und abends. Es ist auch wichtig, die Verwendung von Peelings zu vermeiden, die die Haut abschleifen könnten. Die Betroffenen sollten zudem Masken zu ihrer Routine hinzufügen. Im Sommer empfehlen wir, vor dem Schminken eine Sonnencreme als Grundierung zu verwenden und diese mit einem transparenten Puder zu fixieren. Anschliessend (kleiner Tipp eines Visagisten) sollte man das Gesicht mit einem Wasserspray besprühen, um die Grundierung zu fixieren.

 

Was hält die Zukunft für Sie bereit?
Die AFV hat viele spannende Projekte in der Pipeline. Was mich betrifft, so träume ich schon lange davon, eine Reihe von Selbstbräunungs-Produkten speziell für Vitiligo-Betroffene zu entwickeln. Daran würde ich gerne arbeiten!